90 plus 1

Stiftungsfest 2016

Festrede zum 91. Stiftungsfest der Seglervereinigung Havel e.V. am 26.11.2016 von Rüdiger Kebe

Liebe Kameradinnen und Kameraden,
liebe Mitglieder aller Arten, Klassen und Ausführungen,
liebe Gäste,

herzlich willkommen zu unserer diesjährigen Geburtstagsfeier, dem SVH Stiftungsfest 2016!

Bei über 90 Jahren kann man schon mal fragen: „Wie’s einem so geht im Alter“? Wie jung fühlen wir uns noch? Oder wie gebrechlich? Haben wir noch Lust? Sind wir gelangweilt? Werden wir immer fauler? Finden wir es ausreichend, unsere Vergangenheit zu verwalten, oder gibt es noch so etwas wie eine Zukunft, für die es sich zu kämpfen lohnt?

Wissen wir überhaupt etwas von der Zukunft, von den aktuellen Trends in unserer Gesellschaft, gerade im Bereich Freizeitaktivitäten und Sport? Verstehen wir die sozialen Veränderungen in unserm Land, in unserem Kiez? Sind die neuen sozialen Netzwerke eine Gefahr oder eine Chance für unsere Vereine? Ist die Zukunft der vielen kleinen Vereine, die alle an den gleichen Symptomen laborieren, nicht besser in einem großen einzelnen „Überverein“ aufgehoben?

Wir könnten uns viele dicke, komplexe, vielschichtige Fragen stellen.
Das müssen wir letztendlich auch. Aber keine Angst, für heute Abend wollen wir es einfach halten. Wir wollen ja Geburtstag feiern. Und nicht Probleme wälzen.

Und: Es gibt etwas Einfaches, sehr wichtiges, ohne das unsere Chancen in der Zukunft blasser werden, als wir ahnen. Ohne das unser Verstehen komplexer aktueller Probleme schnell ins Sinn- und Zwecklose driftet. Und das hat vor allem mit uns selbst zu tun!

Um euch schon mal in die richtige Richtung zu lenken, möchte ich zu einem kleinen Trick greifen. Gehen wir doch einfach mal von folgendem aus: wir feiern nicht den 91. Geburtstag, sondern den „90 plus Ersten“ Geburtstag. Was ist dann anders?

Dann haben wir symbolisch die Reife des Alters, das Wissen und die Erfahrung der Vergangenheit an Bord, planen aber kühn einen symbolischen Neustart, mit der „Eins“. Lasst uns doch die Eins in den Mittelpunkt schieben. Und nicht die 90.
Anm.: Das passt mir ganz gut, ist es doch auch mein erstes Jahr als euer 1. Vorsitzender.

Mit 90 ist die Festplatte ganz schön voll.

Im guten Sinne – am besten umschrieben mit diesem großen Stolz, nach allem was erreicht wurde. Beachtlich! Und das können wir allemal sein: Stolz! Schaut Euch um. Tolle Geschichte!
Aber auch im belasteten Sinne, denn wir schleppen ganz schön was mit uns rum, da ist auch manches verwachsen und verbastelt und im Alltag ist vieles nicht mehr ganz so klar, wie es vielleicht mal war.

Mit Eins ist die Festplatte ganz schön leer.

Im Guten, weil noch alle Chancen und Möglichkeiten offen sind.
Im Belasteten, weil mit dem Jahr Eins die Unselbständigkeit und die Abhängigkeit regiert.

Mein Tipp: wir sollten uns einfach auf die Chancen konzentrieren. Selbständigkeit kann man lernen, immer wieder. Das hört nie auf. Chancen kann man aber verpassen, und oft kommen sie nicht wieder.

Ok, um Euch weiter klar zu machen, auf was ich heute hinaus möchte, hier ein Beispiel: bei Computern ist die Sache auch relativ einfach. Und das kennen die meisten von euch, die schon so manches Mal vor ihrem geliebten technischen Accessoire verzweifelt sind.

Denn sind die tollen Kisten „alt, belastet oder verbastelt“, werden sie immer langsamer, oder tun Dinge, mit denen man überhaupt nicht mehr einverstanden ist, dann macht man sie „platt“.

Das heißt nicht unbedingt „ab in die Tonne“, sondern man installiert das Betriebssystem neu und fängt einfach wieder von vorne an. Besorgt sich dieses „Weiße Weste-Gefühl“, nach dem Motto: Tafel abwischen, nochmal nachdenken und dann frei von der Seele weg nochmal durchstarten.

Auf uns und unseren Verein übertragen heißt das: wir fangen nochmal von vorne an. In Softwaresprache: Wir starten unser Programm „Verein 2.0“.

Und wir fangen zuerst damit an, uns zu erinnern, warum und wozu wir eigentlich hier sind. Wem das partout nicht gleich gelingt, der fragt gleich mal seinen Nachbarn: „Hey, warum bist denn du eigentlich immer noch da?“.

Warum und wozu wurde dieser Verein vor 91 Jahren gegründet? Man beachte den kleinen Unterschied der beiden Fragen. „Warum“ fragt nach hinten, in die Vergangenheit, „Wozu“ fragt nach vorn, in die Zukunft. Profis wissen, das hat etwas mit Didaktik zu tun. Ein Wort, das viele von uns gar nicht kennen. Und, wenn wir uns noch selbst gut erinnern können, oder eben nur einen kennen, der einen kennt, der einen finden kann, der sich erinnern mag, dann befragen wir ihn oder sie, nehmen die Antworten, die diese wunderbare Vereins-Idee einst ins Leben riefen, und gründen unseren Verein einfach erneut.

Starten einfach nochmal frisch, zumindest im Kopf.
In der Hoffnung, dass wenigstens der noch funktioniert.

Noch ein Beispiel: wenn Paare in die Jahre kommen, und sich auch nicht mehr so richtig und im Detail erinnern können oder wollen, warum sie eigentlich zusammen sind, dann hilft es manchmal, sie zu bitten, sich doch zu erinnern, was sie eigentlich mal aneinander gut fanden, warum sie sich einst verliebten.

Den Moment der ersten Begegnung aufzurufen, bringt dieses Gefühl der Energie und Freude, ja der Magie des gemeinsamen Anfangs zurück.

Damit möchte ich keiner Person zu nahe treten. Das heißt:
Parallelen zu hier Anwesenden, natürlichen und lebenden Personen sind rein zufällig und natürlich nicht beabsichtigt. 🙂

Aber glaubt es mir: diese einfache Frage nach dem Anfang, kann für einen Neustart nützlich sein. Das kann auch manche verfahrene Situation retten. Verbasteltes gerade ziehen. Das kann helfen, das Problem zu finden. Wo’s klemmt oder hakt.

Interessant ist es, wenn man diese Paare dann bittet, dass jeder von beiden, und zwar getrennt voneinander, mal aufschreibt, warum sie vor langer Zeit zusammenkamen. Wenn man sich das Ergebnis dann anschließend gemeinsam anschaut, sind hilfreiche und manchmal ernüchternde Überraschungen garantiert. Aber egal was man dabei rausbekommt: es wird helfen! Klären, evtl. auch den Weg in den Abschied, die Trennung!

Kleine Anmerkung: Es ist keine Schande, den Mut aufzubringen, zu gehen! Wenn Lebensumstände nicht mehr zu einem passen, dann sollte man sich andere Wege suchen. Den Weg frei machen für neues. Auch die Zeit in einem Verein kann zu Ende gehen, weil sie nicht mehr zu einem passt; und zu den eigenen Bedürfnissen und Lebenszielen.

Ok, wenn wir wirklich miteinander neu starten, dann ist ja wohl folgendes klar und unabdingbare Voraussetzung – es folgen alles Dinge, die wir leider haben, aber nicht brauchen.

Niemand gründet einen Seglerverein, und niemand wird Mitglied in einem solchen

– um sich über die anderen zu ärgern, oder sie zu beschimpfen,
– um sich nicht an der Gemeinschaft zu beteiligen,
– um sich still in die Ecke auf sein Boot zu setzen und zu schmollen, bei einem Tässchen Tee, oder so
– um ein teures Segelboot nur preiswert zu parken, aber es nicht zu nutzen, oder wenigstens andere nutzen zu lassen,
– um nicht mitzuhelfen,
– um nicht dazu beizutragen, dass es dem Verein gut geht,
– oder um sich erst dann zu engagieren, wenn er oder sie durch diesen „nervigen, leider notwendigen Arbeitsdienst“ gezwungen wird,
– um preiswert an Alkohol zu gelangen ;-),
– um Mitgliedsbeiträge so niedrig zu halten, dass die eigenen Spar-Interessen die Interessen der Gemeinschaft belasten (au weia!)

Diese Liste könnte man endlos fortsetzen. Negativlisten bauen geht schnell und einfach.

Kommen wir aber zum Positiven.

Anmerkung: Wie ihr merkt, habe ich beschlossen eine Grundsatzrede zu halten. Damit verschiebt sich das Buffet um 90 Minuten. *Räusper*

Wir feiern Stiftungsfest. Gut.
Dann lasst uns das auch wirklich tun. Wir sollten uns wirklich mal wieder miteinander „anstiften“! Habt ihr Lust?

Und wenn es euch gefällt weiterzudenken, was ein symbolischer Neustart uns für Vorteile bringt, dann lasst uns einfach unseren Verein im Kopf (neu)gründen. Virtuell. Das ist hipp!

Wir nennen unseren Verein die SEGLERVEREINIGUNG HAVEL e.V. (sehr originell).

Lasst es uns machen, weil wir etwas Gutes tun wollen. Uns und anderen.
Weil wir etwas gemeinsam gestalten wollen – mit Spaß.

Weil wir ein reales, gelebtes soziales Netzwerk sind! Das ist cool. Und echter als Facebook!

Weil wir den Segelsport in der Gemeinschaft eines Vereins fördern wollen – mit Spaß.

Weil wir uns aneinander freuen wollen – mit Spaß.

Lasst uns einen Ort schaffen, an den wir gerne kommen – mit Spaß.

Und an den wir gern andere einladen. Fremde, wie Freunde, immer wieder.

Die Vereinskultur in Deutschland war schon immer mit den Worten Demokratie und Integration (z.B. der „Integration von Neubürgern“) verbunden. Sportvereine haben unsagbar viel Positives geleistet um Neulingen und Fremden usw. den Weg in unsere Gesellschaft zu erleichtern. Alle Beteiligten verbindet dabei eine, oft sehr ähnliche Herausforderung: Der Neuanfang.
Wir wandern also mit der Neuanfangs-Idee auf traditionsreichen Wegen.

Und wenn wir schon dabei sind, wenn wir an einen Neuanfang denken: dann lasst uns ab sofort behutsamer mit Worten umgehen.

Das wird die neue Grundregel!
Vielleicht könnte das sogar unser Erfolgsgeheimnis sein – wer weiß?

Verbale Umweltverschmutzung ist niemals hilfreich. Manch einer hat sich bei uns und Kameraden gegenüber eine Wortwahl angewöhnt, die nicht mehr viel mit Respekt und Anerkennung des anderen zu tun hat. Somit sage ich allen Dauermeckerern (und ein paar haben wir noch): Hört auf zu meckern und das Negative zu sammeln und fangt lieber an die Dinge, die euch stören, zu verändern – mit Spaß.

Ich glaube ganz fest, wenn wir es schaffen, die Freude, den Stolz und die Begeisterung, die ich hier mal unterstelle, unserer einstigen Anstifter und Gründer immer wieder in unseren Vereinsalltag, unser heutiges Miteinander zu holen, dass wir dann besser gerüstet sind für die großen, unweigerlich auf uns zukommenden Zukunftsaufgaben, als wenn wir das nicht tun.

Und darum geht es mir im Jahr „90 plus 1“.

Es ist nie zu spät für eine schöne Vergangenheit, sagen die einen.
Die Zukunft war früher auch schon mal besser, sagt Karl Valentin.
Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert auch die Zukunft, sagt George Orwell – der olle Zyniker.
Wir dürfen unsere Bezugspunkte nicht verlieren, sage ich.
Und so ähnlich tut das auch Karl Marx (nicht unbedingt ein Kumpel von mir) – der olle Revoluzzer.

In Grundsatzreden von uns geschätzten Vorsitzenden anderer (Nachbar)-Vereine findet man Hinweise wie:

„Wir (Vereine) können die Gesellschaft nicht ändern. Wir müssen uns ändern. Sonst verlieren wir den Anschluss.“

Manchmal klingt das wie eine verfrühte Grabesrede… Aber lasst uns gar nicht anfangen zu heulen und Schwanengesänge auf den Untergang der Vereinskultur anstimmen. Wir müssen uns ändern, ok: aber das heißt erst an zweiter Stelle, dass wir nachdenken sollten, ob unser Angebot noch zeitgemäß ist, ob gesellschaftliche Phänomene wie
– die Ausdifferenzierung von Sportarten,
– die Bindungsangst von Menschen unter 35,
– der Trend zur Simplifizierung, zu Flatrates oder
– zu Freizeitaktivität ohne Verpflichtung, ohne Verantwortung, ohne Bindung
uns veranlassen sollten unsere komplette Vereinsstruktur auf den Kopf zu stellen.

An erster Stelle heißt Veränderung, dass wir uns an unsere alten Werte erinnern sollten.

Offenheit nach Außen und Kameradschaft nach Innen, das gemeinsame Tragen von Verantwortung. Und ich habe das schon beim Ansegeln gesagt: die Kameradschaft ist der Freundschaft näher, als der operativen Zweckgemeinschaft!
Zu unseren alten Werten und Bezugspunkten gehören dann noch die Fähigkeiten zur Integration und etwas gelebte Demokratie. Vergesst nicht, was die Demokratie von allen anderen Strukturen unterscheidet: es ist das Reden miteinander. Der gemeinsame Respekt, die Achtung der Menschenwürde.

Und dann ist sie da, die alte, und neue schöne Idee:
unserem wunderbaren Freizeitwunsch des Segelns nachzugehen.

Das ist die Zukunft.

In der Gemeinschaft.

Mit Freude, mit Spaß.

Und: gerne hierher zu kommen, auf unser wunderschönes Grundstück. Sagen zu können, und das mit Stolz und frei von Groll und falschem Egoismus:

Das ist mein Verein, meine SVH.

Ich bin gern ein Teil von euch!

Vielen Dank!

 

Nachtrag
Nochmals Dank an alle Beteiligten:
unserem Festausschuss – und ich hoffe sehr, dass ihr Euch weiter so engagiert, denn wir wollen noch viel feiern!
Hans Werner Stohmann, Rainer Glas und vor allem Jackie Borowski und Mann Ronald (an der Kasse) samt ihren wunderbaren Kids
Hannah, Tom und Joshua. Nicht vergessen möchte ich Ulli Schendel, Anna Braun, Ina Schnurbus, Daniela Nolte, Ingrid Borowski und Uwe Beth, die dieses Fest fleißig mit vorbereitet haben.

Ich wünsche uns allen ein frohes und gesundes Jahresende!
Allen, die wir in diesem Jahr nicht mehr sehen: bleibt gesund und munter!
Alle Anderen sehen sich auf der Monatsversammlung am 7.12. oder bei nächster Gelegenheit in unserer SVH.
Spätestens aber 2017. In unserem Verein. Und ich hoffe ihr könnt alle mit einstimmen in den Satz: „Ein Ort an dem ich gerne bin, meine SVH.“

Der dusselige Spruch eines bekannten Supermarktes: „Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein“ soll hier, ohne Zynismus, Anwendung finden.
Aber bitte wieder in der Originalfassung aus Goethes Faust: „Hier bin ich gern. Hier darf ich‘s sein.“

Macht’s gut! Kommt gut nach Hause!

Rüdiger Kebe
1. Vorsitzender der SVH e.V.